Politik

Helmut Kohl und meine Mutter

Europäischer Gigant oder verheimlichender Kleingeist? Die Nachrufe oszillieren ein wenig, was Helmut Kohl anbelangt. Was wiegt schwerer, auf der Waage der Anerkennung, die Parteispenden-Affäre oder die Wiedervereinigung? Was zieht stärker nach unten - sich selbst und sein Wort wichtiger zu nehmen als das Schicksal der CDU oder der Dienst, den man Deutschland erwiesen hat? Als ob diese Frage vor Kohls Tod nicht schon oft genug gestellt worden wäre. Was sie am ehesten belegt, ist die Sehnsucht der Deutschen nach der Sauberkeit ihrer Heldenfiguren. Übergröße, nach der man ruhigen Gewissens Plätze benennen darf. Was wir wohl niemals lernen werden: Menschen haben eben die Fähigkeit, Großes zu vollbringen und gleichzeitig ziemlich engstirnig sein zu können. Diese Erkenntnis bleibt uns verschlossen. Trotzdem verlangen wir sie aber mit Vorliebe von den zu bestätigenden Großen der Geschichte. Kohl selbst hätte das natürlich begreifen müssen - bitte moralisch, gern juristisch. Ein wirklicher Mann von Format hätte jeden Zweifel ausgeräumt. Die Frage ist nur, ob er dann noch dasselbe Format gehabt hätte. Da beißt sich die Katze dann in den Schwanz. Der Druck, in die Geschichte eingehen zu wollen, ist nicht zu unterschätzen. Paradoxerweise arbeitet der Mensch am härtesten am einem nachträglichen Geschichtsbild, von dem er selbst nichts mehr hat. Das gilt nicht nur für Helmut Kohl.

Bei der Lektüre der Artikel und dem Anhören diverser Interviews ist mir vor allem eines im Gedächtnis geblieben, ein Detail aus dem Gespräch mit Christian Lindner im Deutschlandfunk. Der FDP Parteichef, ebenfalls Ende der 70er Jahre geboren, beschreibt Kohl aus der Sicht unserer Generation. Wie er diese Omnipräsenz wahrgenommen habe, diese ungeheure Amtszeit von 1982 bis knapp an die Jahrtausendwende heran. Dass dieser permanente Kanzler erst abgewählt worden sei, als wir das erste Mal wählen durften, im Jahr 1998. Viele Jüngere, so heißt es an anderer Stelle in der Berichterstattung, seien regelrecht überrascht gewesen, dass dieses Amt von jemand anderem bekleidet werden könne als von Helmut Kohl.

Ganz so schlimm war es bei mir nicht. Angesichts der Kritik, die dem damaligen Kanzler in unserem Haushalt von Zeit zu Zeit entgegengebracht wurde, war mir die grundsätzliche Möglichkeit, sich im Hinblick auf diesen Posten anders entscheiden zu können, schon bewusst. Und regelmäßig wiederkehrende Schlagzeilen in der Presse, Variationen des Schlachtrufs „Birne muss weg“, haben das auch in der Öffentlichkeit diskutiert. Man war zumindest theoriefest.

Aber das ist alles ein wenig die Erinnerungspflicht. Die wichtigste Geschichte, im Zusammenhang mit Helmut Kohl, ist eine persönliche. Wenn ich an den Altkanzler denke, muss ich immer ein wenig schmunzeln, da er mich an den Humor und die Kreativität meiner Mutter erinnert. Eine vielleicht etwas zweifelhafte Verbindung, „Denke ich an Helmut Kohl, denke ich an meine Mutter“, aber so ist es eben. In den frühen Jahren ihrer Berufslaufbahn, so hat meine Mutter einmal erzählt, habe sie als freelancer in einer Werbeagentur gearbeitet und sich immer gewünscht, dass der Knäckebrot-Hersteller Wasa ihrem Arbeitgeber irgendwann mal eine Auftrag für eine Werbekampagne erteile, denn sie hätte bereits den perfekten Claim. Und ich habe mir immer vorgestellt, wie dieser Claim auf einer der großen Werbeflächen bei uns um die Ecke hätte stehen können. Abgebildet mit einem trockenen Knäckebrot und ein paar dünnen Birnenscheiben darauf: „Wasa. Das macht den Kohl nicht fett.“ Diese Geschichte habe ich nie vergessen, und sie soll bitte mit in das kulturelle Gedächtnis zu Helmut Kohl eingehen, wenn wir in diesen Tagen schon so viel zwischen erhabener Übergröße und dreckigen Details hin- und herspringen.